My winter home
Januar 2021. So kalt ist es gar nicht: nur minus zehn Grad. Diese Nacht ist deutlich milder als die Kältespitzen mit minus fünfundzwanzig Grad der vergangenen Nächte, die der sonnenverbrannten und windgepeitschten Haut ihrer Gesichter weiter zugesetzt hatten.
Die Zeit vergeht schnell, genau wie an den anderen Tagen: Aufstieg mit Fellen, Abfahrt, neuer Aufstieg, weitere Abfahrt. Und dann Wasser holen, das unerklärlicherweise unter dem Schnee fließt, selbst bei minus zwanzig Grad, um dann langsam im Wasserbad die Gasflasche zu erwärmen, damit sie ihre ganze Kraft entfalten kann, um auf dem anderen Feuer des Kochers ein stärkendes Mahl zuzubereiten.
Ein wenig Suppe und Kaminwurzen, die geräucherten Würste, die ganz langsam und in vollen Zügen genossen werden, wie eine Zigarre vor dem Kamin. Ein Abend, warm eingemummelt im Schlafsack, an dem du die schönsten Kurven Revue passieren lässt, ehe dich plötzlich dieser wunderbare Nebel einhüllt und dich in den tiefsten Schlaf entführt – nach einem Tag, an dem du alles gegeben hast.
Aaron und Matthias ziehen die Reißverschlüsse ihrer Schlafsäcke zu, die selbst bei polaren Temperaturen getestet wurden. Wenn du dir jedoch nicht vorher etwas Warmes anziehst, dringt die Kälte ein, und zum Aufwärmen bleibt dir nur die eigene Körperwärme. Oder du gibst zuerst etwas Heißes hinein, wie die Wärmflasche, die Aaron von seinem Sohn stibitzt hat, oder die runde Aluminiumflasche, die Matthias schon als Kind besaß – eine von denen, die man mit einer Hülle aus Loden überzieht.
In Aarons Kopf folgen die Träume schnell aufeinander, einer nach dem anderen. Und dann dringt auch schon die gerade aufgegangene Sonne kraftvoll durch die Zelttür. Ein Gähnen, die Hand, die ihren Weg aus dem Schlafsack findet. Der Zeltboden ist mit einer dicken Eisschicht bedeckt. «Was ist denn hier passiert, ist was ausgelaufen?», fragt Matthias mit noch schlafheiserer Stimme.
«Heute Nacht ist der Camelbak kaputt gegangen, den ich in meinem Schlafsack hatte», antwortet Matthias ungerührt. Der Wasserbeutel, den er tagsüber in seinen Rucksack packt und nachts in seinem Schlafsack aufbewahrt, um das Wasser auf einer akzeptablen Temperatur zu halten und von Zeit zu Zeit trinken zu können, hatte den Geist aufgegeben. Und so hat er die ganze Nacht regungslos und durchnässt ausgeharrt. Mit der Frage, ob er aufstehen und ins Tal hinabsteigen sollte. Endlose Stunden, die im Nachhinein als Geschichte erzählt blitzschnell vergehen und komische Züge annehmen, beim Durchleben aber eher einer kleinen Tragödie gleichen.
Und doch ist es schön, die kalte Luft im Gesicht zu spüren, die Sonne durch die Zelttür aufgehen zu sehen und den Schnee zum Frühstück auf dem Campingkocher zu schmelzen. Und dann die Felle vor den Eingang zu stellen und sich auf den Weg zu machen, um endlose Routen zu entdecken.
Aaron ist noch im Dämmerschlaf, erfüllt von den Emotionen der letzten Tour. Aufbruch bei Dunkelheit im Tal, eine kurze Portage, dann rauf auf die Felle. Und schließlich eine Nacht im Zelt, um die Freiheit zu genießen, die inmitten einer Pandemie so kostbar ist.
Mit bereits geschlossenen Augen aber noch wachem Geist beginnt Aaron über den Winter 2021 nachzudenken. Ob es möglich sein wird zu reisen, ist noch ungewiss. Dort oben, genau über seinem Haus und knapp über dem Trubel von Meran, fühlt es sich an wie in Patagonien. Der Kontrast zwischen unten und oben ist der zwischen der entwickelten und der wilden Welt, die hier nur wenige Kilometer auseinanderliegen. Oder einen Flug mit dem Gleitschirm. Es wäre schön, das Gefühl von Expeditionen in die entlegensten Winkel der Erde nur einen Steinwurf vom eigenen Bett und der Familie entfernt nachempfinden zu können.
Es herrscht Lockdown, und obwohl Aaron und Matthias aus beruflichen Gründen theoretisch mit dem Auto unterwegs sein dürften, haben sie beschlossen, sich auf alternative Fortbewegungsmittel zu beschränken – und hier kommen die Fahrräder ins Spiel. Sie wollen 2.100 Meter Höhe erreichen, und so weichen die Zweiräder bald den Fellen.
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Diese Idee, die er im Halbschlaf hatte, hat im Projekt Winter Home Gestalt angenommen, einem festen Basislager in den Bergen oberhalb seines Hauses, von dem aus er jede erdenkliche Strecke fahren kann. Jedes Mal nahmen sie 10-Kilo-Rucksäcke und einen Gleitschirm mit, um schneller zurück zu kommen. Jetzt liegt schon alles in der Höhe bereit, geschützt unter einem Felsbrocken. Da sind die Gasflaschen, der Kocher, das Zelt und einige Vorräte. Und trotzdem – wenn sie dort oben ankommen, fühlt es sich an wie auf dem Mond. Von dem vier Meter hohen Felsbrocken keine Spur, alles ist flach. Vielleicht kann man einen Schornstein erahnen. Ob er es ist? Der Beginn des pandemischen Winters fällt mit der schneereichsten Saison seit Aufzeichnung der Schneefälle zusammen, und die Einrichtung des Basislagers gestaltet sich schwieriger als erwartet.
Aaron und Matthias sind keine Eskimos und wissen nicht, dass sich Iglus nach dem Bau setzen. Und so senkt sich das mächtige Gewölbe nach seiner Errichtung immer weiter ab. Für das Zelt ist es nun viel zu flach – aber zumindest macht es sich gut als Keller. Es ist unmöglich, sich jeden einzelnen Moment aus den über sechs Monaten ins Gedächtnis zu rufen. Aaron und Matthias haben insgesamt etwa dreißig Nächte in ihrem Winterhaus geschlafen. Manchmal waren sie kaum angekommen, da mussten sie sich auch schon wieder auf den Rückweg machen. Andere Male verbrachten sie hier einen drei- oder viertägigen Arbeitsurlaub. Unzählige Erinnerungen, aber zwei Momente haben sich Aaron besonders eingebrannt.
Die schönste Strecke? Die schönste Strecke war die der Verdinser Plattenspitze, die Aaron mit Bruno Mottini gefahren ist.
Der Start erfolgt von einem langen, scharfen Grat aus, dann ein steiler erster Teil und in der Mitte ein felsiger Sprung, der durch Öffnen des Gleitschirms überwunden werden muss, mit Speedriding, dann wieder ein großer, sanfter Hang, an dem man sich mit Kurven in der Luft und auf dem Schnee austoben kann. Der perfekte Abstieg, den er sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Und dann der Ifinger, der Berg oberhalb von Meran 2000, der erste Steilhang, den Aaron befahren hat, der, auf dem Onkel Renato Heini Holzer getroffen hatte. Diesmal fährt er ihn gemeinsam mit Matthias.
«Den ganzen Winter über sind hier nicht mehr als dreißig Skitourengeher vorbeigekommen. Mit unserem Zelt an den Spronser Seen konnten wir also eine Gegend entdecken, die so wild ist wie die entlegensten Orte der Welt», sagt Aaron rückblickend auf die langen Monate zwischen 2020 und 2021.
Mit einem Stützpunkt, einer Skihütte, auf 2.100 Metern, kann man jeden Tag eine neue Strecke entdecken und bis auf 3.400 Meter aufsteigen. «Das Meraner Gebiet ist ziemlich windig, normalerweise ändert sich der Schnee hier schnell und einige Pisten werden gefährlich, aber im ersten Teil des Winters waren die Bedingungen fantastisch.»
Februar 2021. Im Lawinenbulletin steht die Gefahrenstufe fünf. Aaron hat das Zelt dort aufgebaut, wo im Sommer der See beginnt. Inmitten einer Mulde, die mit dem Zirkel gezeichnet scheint. Der nächstgelegene Abhang ist etwa 500 Meter entfernt. Es ist der beste und sicherste Ort. Aber bei Gefahrenstufe fünf bleibt man trotzdem besser zu Hause.
Und da: Ein Rumpeln überrollt das Becken. Der gesamte Hang auf 270 Grad jener weißen Schüssel rutscht ab. Als Aaron und Matthias zu den Seen hinaufsteigen, ist von dem Zelt nichts zu sehen. Alles ist verschüttet, und sie müssen lange Zeit mit Sonden und Schaufeln arbeiten, um es herauszuholen.
Das Winter Home wurde vom letzten Atemzug erreicht, dem schwächeren, verschwand aber dennoch unter der weißen Decke. Der Berg hat uns ein Signal geschickt. Er sagt uns, dass wir alles an einem anderen Ort wieder aufbauen sollen. Diesmal fällt die Wahl auf den Hirzer-Berg, der mit seinen 2.781 Metern das Passeiertal vom Sarntal trennt. «Luftlinie sind es nur ein paar Kilometer, er liegt genau auf der anderen Seite des Tals», erklärt Aaron.Abbauen, transportieren und wieder aufbauen. Ein echter Knochenjob.
Diesmal beschließen die beiden, das Sarntal mit dem Auto zu durchqueren, um schneller dort oben anzukommen und das neue Winter Home einzurichten. Die Stelle selbst jedoch erreicht man nur by fair means. Also geht es mit dem Fahrrad nach Tall auf 1.400 Metern, weiter mit Fellen auf den Gipfel auf fast 2.800 Metern und schließlich mit einem wenige Kilo schweren alpinen Gleitschirm und einem leichten Gurt hinunter. «Rückblickend war es eine Herkulesarbeit, aber es hat sich gelohnt, denn so konnten wir eine andere Gegend erkunden.»
Für den Abbau des Winter Home reichte ein Ausflug mit ein paar Freunden Ende Mai. Mit 150-Liter-Gleitschirmrucksäcken auf den Schultern ging es hinab ins Tal wie Sherpas, alle zusammen. Weil man die schönen Dinge des Lebens mit seinen Freunden erleben sollte. Wie die Abende, an denen man den Sonnenuntergang beobachtet und über das Skifahren spricht, die rote Sonnenscheibe, die morgens die Zelttür durchdringt, die heiße Suppe nach einem kalten Tag, der Schinkenspeck und der Grana-Käse, das Knarzen des Schnees unter den Fellen, das Geräusch des tiefen Pulvers, das Knirschen der Zähne des Fuchses, wenn er die Knochen des gerade verspeisten Huhns abnagt.